Auszüge aus den Aussageprotokollen Namsetchi Mojdehs (Mai 1995)
Alle Übersetzungen sind, soweit uns das möglich war, nah am italienischen O-Ton, d.h., wir haben unverständliche Wörter im Text so stehen gelassen. Es geht uns auch darum zu zeigen, welchen Wortschatz die Mojdeh verwendet: Sie, eine 19jährige Jugendliche, welche sich in einer extrem empfindlichen Situation, unter großem psychischen Druck, befindet, soll dem Aussageprotokoll nach folgenden Wortschatz verwendet haben: wir finden z. B. Begriffe wie Proselytismus (Überzeugungsattacke, Gehirnwäsche) oder Prosevitismus (Propagandismus), die sogar in der italienischen Sprache nur Akademikern bekannt sind. Desweiteren finden wir Sätze wie "...die beiden Mofas wurden nach Rom gebracht und hier okkultiert (versteckt)“ oder "...um den Banküberfall zu konsumieren (machen)...“ Es ist auch sehr auffällig, daß sie alle Leute mit Nachnamen bezeichnet, wie das bei der Polizei so üblich ist.
Eine offensichliche "Verwirrung“ oder grobe Widersprüche findet man zu Fragen von Ort und Zeitpunkt. So ist die Rede von einem Clynamen (selbstverwaltetes anarchistisches Zentrum) in Trient. Tatsächlich befand sich das Clynamen in Rovereto. Dies muß dem Staatsanwalt irgendwann aufgefallen sein, also korrigiert sie sich und redet von nun an von Rovereto.
Es ist die Rede von der Wochenzeitung Canenero, die jedoch zu dem von ihr angegebenen Zeitpunkt noch gar nicht existierte. Wohnungen von AnarchistInnen werden plötzlich als Basis der Organisation dargestellt. Bücherarchive werden zu Geheimdepots für Waffen und Sprengstoff. Leute, die mit den Mietern dieser Wohnungen oder Archive befreundet sind, werden zu Mitgliedern des "zweiten Levels“ (also dem illegalen), diejenigen, denen nicht konkret nachgewiesen werden kann, daß sie mal in einer dieser Wohnungen übernachtet oder sich dort länger aufgehalten haben, gehören erstmal zum legalen "ersten Level“. Um noch eins draufzusetzen ist die Rede von internationalen Kontakten. In diesem Zusammenhang wird speziell Deutschland erwähnt: “...Ich weiß das der Tesseri in Deutschland war, ich weiß nicht in welcher Stadt, aber er war in Deutschland denn von dort brachte er mir ein Geschenk mit...“
"Nach der Verhaftung von Tesseri am 19. September 1994, bin ich des öfteren nach Rovereto gefahren, um den Tesseri im Gefängnis zu besuchen. Bei diesen Gelegenheiten habe ich regelmässig das Clynamen in Rovereto besucht. Als dort die Nachricht über den Mord an einem Securitymenschen in Lucca kommentiert wurde – eine Nachricht, die auch in der Wochenzeitung "Canenero“ vom 28. Oktober 1994 in der Rubrik "Nachrichten der Revolten“ veröffentlicht wurde – habe ich erfahren, daß dieser Mord von Alfredo Bonanno und anderen Genossen durchgeführt worden ist... Nun kann ich mich nicht daran erinnern, ob der Name von Alfredo Bonanno im Zusammenhang mit diesem Mordes, vollbracht am 19. Oktober 1994, von dem die Rede in der Wochenzeitung Canenero vom 28. Oktober 1994 ist, gemacht wurde, oder ob er sich auf die anderen beiden "Privatpolizisten“ bezog, die in derselben Gegend von Lucca ermordet wurden.
Ich möchte auch deutlich machen, daß alle Veröffentlichungen des "Canenero“, die den Akten beiliegen, von mir persönlich den Carabinieri ausgehändigt worden sind. Ich hatte sie bei mir in meiner letzten Wohnung in der Via Ludovico Pavone. Ich möchte des weiteren deutlich machen, daß die Wochenzeitung Canenero eine Publikation ist, die exclusiv für den internen Gebrauch der anarchistischen Szene ist...“ (A.d.Ü. der Canenero ist in diversen, ganz normalen Buchläden erhältlich)
"Ich möchte präzisieren, daß in der Organisation ein doppeltes Level herrschte: ein offenkundiges, und deshalb scheinbar legales; das andere okkult und sicherlich illegal. Das offenkundige und scheinbar legale Level, welches sich widerspiegelte in den Versammlungen, die in sogenannten besetzten Zentren gehalten wurden, in der Vertreibung und Verteilung diverser Flugblätter, in denen auch die Solidarität gegenüber der festgenommenen Genossen gezeigt wurde, so wie es im Falle von Rovereto war, wo viele auch an den Verhandlungen des Prozesses gegen die Festgenommenen wegen des letzten Banküberfall vom 19. September teilgenommen hatten; bei den improvisierten Versammlungen, die am "muretto“ gehalten wurden; in der Wochenzeitung "Canenero“, die im Laufe der Demonstrationen verteilt wurde; in der Besetzung von verlassenen Gebäuden, die dann eben zu "besetzten Zentren“ wurden, von denen ich gesprochen habe.
Das zweite Level hingegen, an dem nur ein Teil der Anhänger der sogenannten anarchistischen Area teilnahm, war der okkulte und daher illegale, da es sich in der Programmierung und Realisierung der Banküberfälle verwirklichte, die eine der Formen der Selbstfinanzierung darstellte; in der Programmierung und der Realisierung von Anschlägen; in der Auftreibung der Waffen, die das gemeinsame Patrimonium der Organisations dieses Levels darstellen sollten und außerdem benutzt wurden, um Banküberfälle zu machen; und das explosive Material gehörte auch zum gemeinsamen Patrimonium der Organisation, um Anschläge auszuführen“.
"Ich möchte hinterbringen, daß es ein weiteres System gab, um Geldmittel für die Organisation aufzutreiben: die Fälschung von Bahntickets. Man kaufte Bahntickets für kurze Strecken; dann verfälschte man sie, indem man mit der gomma pane (A.d.Ü.: ein spezieller Radiergummi) den eingetragenen Fahrtweg löschte und ihn mit einer längeren Strecke vertauschte. Dann ging man an den Bahnhof Termini und ließ sich das Ticket zurückerstatten, dabei erhielt man den Profit, den der Unterschied zwischen der zugeteilten kurzen Strecke und der längeren Strecke ausmachte. Natürlich wurde das Ticket für nichts anderes benutzt außer um die Zurückerstattung auf diese Art zu erreichen; in einzelnen Fällen benutzte man falsche Ausweise, um die Zurückerstattung zu erhalten. Ich erinnere mich, daß dieses System für vermeintliche Reisen ins Ausland benutzt wurde. Ich erinnere mich, daß eine der am meisten erwähnten Städte London war. Andere Male wurde dieses System benutzt, um im Zug zu reisen; auch bei den Gelegenheiten, bei denen wir uns bewegten, um die Banküberfälle zu machen. Dabei spiele ich besonders auf die Überfälle von Mailand, Ravina und Rovereto an. Also, jedes Mal, wenn wir mit Zug unterwegs waren, gingen wir in eine Agentur, bei der wir Tickets für Kurzstrecken kauften, um diese dann mit dem oben erwähnten System in längere Strecken umzutauschen... Und das machten auch alle anderen Anhänger der Organisation“.
"Die Wohnung des Tesseri, in dem die Silocchi als Geisel gehalten wurde, befindet sich in Aprilia. Die Wohnung bestand aus drei Schlafzimmern, zwei Bädern, einem Wohnraum mit Kochnische. Die entführte Silocchi befand sich in einem der drei Schlafzimmer, und zwar genau in dem Zimmer der Ex-Frau von Tesseri, also von C.L. Ich sage dies, weil ich weiß, daß das andere Schlafzimmer von Tesseri besetzt war, den ich sehr gut kenne, und das dritte, etwas kleinere Schlafzimmer war von der Tochter des Tesseri belegt, die zum damaligen Zeitpunkt 12 Jahre alt war. Ich habe dieses Kind unter dem Namen V. kennengelernt. Ich bin diesem Kind jedoch in dieser Wohnung nie begegnet, aber die C.L. habe ich zum ersten Mal bei der Entführung kennengelernt. Ich habe gesehen, daß im Zeitraum der Entführung C.L., P.A. und O.C. zu dritt in dem Zimmer von V. geschlafen haben. Auch ich habe zu diesem Zeitpunkt in dieser Wohnung, im Zimmer von Tesseri geschlafen, aber nur für ein paar Nächte. Auf jeden Fall war ich tagsüber nie in dieser Wohnung. Ich wiederhole, ich habe mich nur für zwei Nächte dort aufgehalten, um zusammen mit dem Tesseri zu schlafen. Bei iesen Gelegenheiten konnte ich sehen, daß außer der C.L. und P.A. auch diese andere Frau da war, von der ich erzählt habe, und dann erfahren habe, daß es sich um Mirella Silocchi handelt. Die Silocchi habe ich immer in Begleitung von wem gesehen. Das erste Mal habe ich sie mit C.L. gesehen, als sie sie in das Zimmer brachte, von dem ich gesprochen habe; ein anderes Mal habe ich sie im Haushof zusammen mit C.O. gesehen; noch ein anderes Mal habe ich sie gesehen, als sie in das Auto stieg und sie wegebracht wurde. Ich habe sie nie gefesselt oder geknebelt gesehen. Es war eine Frau um die 40-45 Jahre, dünn, nicht groß, mit roten Haaren (diese waren aber gefärbt), sie trug eine etwas dunkle Augenbrille. Ich kann nicht sagen, , etwas kleinere, was für Kleider sie trug. Ich kann sie nicht besser beschreiben, da ich sie alle drei mal nur für wenige Augenblicke gesehen habe. Ich habe sie nie reden hören. Ich habe diese Frau nie auf Fotos gesehen, noch habe ich ihre Fotos jemals in Zeitungen und/oder im Fernsehn gesehen. Wenn ich heute ein Foto von ihr sehen würde, wäre ich fähig, sie wiederzuerkennen“. (Diese "Fakten“ sind angeblich vor 4 Jahren vorgefallen, als die damals 15jährige Carlo Tesseri kennengelernt hatte).
"Die Basisgruppe der Organisation war diejenige, die sich in der Wohnung von G. und S. versammtelte oder dort transierte (a.d.Ü.: vorbeikam). Oft begegnete ich denselben Personen auch in den besetzten Zentren dieser Stadt und vor allem in dem besetzten Zentrum Garbatella, wo ich zum ersten Mal die S., den S.M. und seine Genossin M. kennengelernt habe. Ich möchte noch dazu sagen, daß ich auch eine andere Person, die Teil dieser Organisation war, kennengelernt habe. Es handelt sich um einen Sizilianer, der in Perugia lebte und dort das Soziale Zentrum L´Aria verwaltete. Einige Male bin ich mit dem Tesseri auch in seine Wohnung gegangen. Ich kann mich daran erinnern, daß es einmal am 26. Dezember 1993 war, als ich zusammen mit Tesseri, mit S. und mit G. dorthin gegangen bin, um mit diesen Personen über den Canenero zu reden, der noch erscheinen mußte. Diese Person heißt P.S. Er und die Frau, mit der er lebt, die G. heißt, sind beide Anarchisten.“
"Auch M.S. und M.S., die ich im Laufe der Fotoaufklärung erkannt habe und in der Wohnung von S. gesehen habe, beschäftigten sich, zusammen mit S.M., mit der Wochenzeitung Canenero. Diesbezüglich möchte ich präzisieren, daß einige Male ein Teil der Überfallerlöse nach Perugia geschickt wurde, wo dann im Zentrum L´Aria diverse anarchistische Dokumente gedruckt wurden. Das Zentrum wurde von P.S. geleitet, der seit vielen Jahren mit Tesseri befreundet war. Einmal bin ich in seine Wohnung in Perugia gegangen, ich glaube mich zu erinnern, daß es am 25. oder 26. November 1993 war. Bei dieser Gelegenheit waren Tesseri, G. u. S. mit mir. Ich möchte präzisieren, daß einige Tage vorher eine Versammlung stattgefunden hatte wegen der bevorstehenden Ausgabe der Wochenzeitung Canenero, daher war der Grund unseres Besuches bei P.S. der, daß man mit ihm über die Ausgabe dieser Zeitung sprechen mußte.“