Notizen des anarchistischen Verteidigungskomitees Turin
Im folgenden Auszüge aus den Notizen des anarchistischen Verteidigungskomitees (CDA Turin) zu den Ermittlungen durch Staatsanwalt Marini vom 12.11.1996. Das CDA veröffentlicht regelmäßig Notizen zum Stand des Verfahrens. Diese sind u.a. durch A-Infos erhältlich.
Zu den Gefangenen
In unserem letzten Info brachten wir die Notiz von einem weiteren Hungerstreik, dem von Giuseppina Riccobono, inhaftiert in Rebibbia ab dem 17. September aufgrund der Ermittlungen von Marini gegen die phantomatische ORAI, den bewaffneten anarchistischen Haufen. Auch Tiziano Andreozzi ist aus Protest gegen die Haft nun im Hungerstreik. Aus einem Info von Forte Prenestino, einem besetzten Zentrum in Rom, entnehmen wir, daß Tiziano Andreozzi vom 28. Oktober an den Hungerstreik in einen Durststreik verschärft hat. Es folgt die Erklärung von Giuseppina Riccobono:
Gefängnis Rebibbia, 23 Oktober, Giuseppina Riccobono:
"...vorigen Sommer hatte Tiziano einen Autounfall, der ein Gehirnhämatom zur Folge hatte. Aus diese Grund ist er darauf angewiesen, ein besonderes Medikament (Gardenale) einzunehmen. Es handelt sich um ein Anti-Epileptikum, dessen Einnahme auf keinen Fall unterbrochen werden darf. Aber seit dem 30. Oktober hat die Krankenabteilung des Gefängnis aufgehört, es ihm zu geben, mit der Begründung, daß er es nicht auf leeren Magen nehmen kann. Diese Begründung mag wohl auch berechtigt sein, die Situation Tizianos ist aber trotzdem gefährlich und verlangt nach anderen Bedingungen. Außerdem wartet Tiziano nach eineinhalb Monaten Haft immer noch auf die Haftprüfung."
Salvatore Gugliara befindet sich seit Dienstag, den 2. November in "Hausarrest" (A.d.Ü.: das ist in Italien anstelle von U-Haft möglich). Im Gegensatz dazu, was wir bisher gehört haben, ist das nicht darauf zurückzuführen, daß der Staatsanwalt sich entschieden hätte, alle Angeklagten, gegen die wegen Vereinigungsdelikten ermittelt wird (bewaffneter Haufen, subversive Vereinigung, Anschläge, Waffen und Sprengstoffbesitz) in "Hausarrest" zu schicken, sondern hängt allein mit dem Gesundheitszustand von Salvo zusammen (dem es mittlerweile wieder gut geht)...
Zum Prozeß am 7. November 1996:
Am Donnerstag, dem 7. November 96, fand in Trient der Berufungsprozeß gegen Jean Weir, Carlo Tesseri, Christos Stratigopulos und Antonio Budini (die alle im Gefängnis von Rebibbia/Rom sitzen, da auch gegen sie Ermittlungen u.a. wegen der angeblichen Mitgliedschaft in ORAI laufen) statt. Die vier sind in einem anderen Verfahren wegen eines Banküberfalls, der in Serravalle durchgeführt wurde, verurteilt worden. Dieser Prozeß jedoch betraf zwei weitere Banküberfälle in Ravina di Trento. Die Anklagen beruhen auf den Aussagen einer "Reuigen" Kronzeugin, aufgrund derer Aussagen 68 Anarchisten in den anderen Verfahren anklagt worden sind.
Die Verhandlung, welche von 9.00 Uhr bis 20.30 Uhr dauerte, wurde von ca. 100 Personen verfolgt. Ein großes Aufgebot an Polizei und Carabinieris war vor Ort. (Beim letzten Prozeßtermin kam es zu harten Auseinandersetzungen bei deren Versuch, die anwesenden Freunde und GenossInnen vom Gerichtsaal fernzuhalten). Nur jeweils 25 Leute konnten der Verhandlung im Gericht beiwohnen.
Unter einem technischen Blickwinkel haben die drei Verteidiger sehr gute Arbeit geleistet. Sie stellten die ganze Angelegenheit in den Rahmen der Ermittlungen Marinis, um dann die Aufgebauschtheit und Willkür der gesamten Vorgehensweise zu verdeutlichen. Sie hoben das Interesse von Magistratur und Carabinieri hervor, die "Reuige" in diesem Prozeß glaubwürdig erscheinen zu lassen, damit sie dann im übergeordneten Rahmen der Ermittlungen im Verfahren wegen "bewaffneter Haufen" etc. auch eingesetzt werden kann.
Tatsächlich kann man im Ermittlungsprotokoll lesen, daß man nur dank der Aussagen der obengenannten "Reuigen" dazu gekommen sei, diese gefährliche Bande zu aufzudecken, und daß es keinen Grund gibt, an ihrer "Reue" und damit ihrer Glaubwürdigkeit zu zweifeln, da ihr ja schon die Richter der ersten Instanz aus Trient Glauben geschenkt hätten.
Die Verteidiger haben die unfaßbaren Aussagen in allen Einzelheiten auseinandergenommen. Sie hoben alle Widersprüche hervor, die schon im ersten Verfahren deutlich waren (näheres kann man dazu in der deutschen Broschüre "Hands up" nachlesen) und haben daher gezeigt, wie unglaubwürdig diese Person ist und aus welchen Gründen sie gehandelt hat. Der Staatsanwalt behauptete, daß , wäre die "Reuige" tatsächlich instruiert worden, sie sich nie und nimmer in Widersprüche verstrickt hätte (Erinnert das nicht ein wenig an die Hexenprozesse? Die Frauen wurden in einen See geworfen: wenn sie ertranken, war es ein Zeichen ihrer Unschuld; wenn nicht, ein Zeichen von Hexerei, und sie wurden verbrannt).
Nachdem sich die Richter für drei Stunden zurückgezogen hatten, beschloß das Gericht, den Prozeß auf den 13. Dezember 1996 zu vertagen, um neue Beweise zu finden. Sie möchten Mojdeh Namsetchi (die "Reuige") und den Marschall Farini (der Carabinieri, der sie "überzeugte", zu bereuen) noch einmal vernehmen, und Unterlagen einer (medizinischen) Operation prüfen, welcher sie sich zwei Monate vorher unterzog, was ihre Teilnahme an den Banküberfällen in Frage stellen würde.
Unsere Beurteilung aus politischer Sicht ist, daß die Richter nicht gewagt haben, die vier (und zusätzlich die anderen vier untergetauchten Angeklagten) angesichts solch einer widersprüchlichen Beweislage noch einmal zu verurteilen. Das ist jedoch ein Prozeß, der von Rom gewollt und gesteuert ist; von Staatsanwalt Marini, der alles daran setzten muß, seinen einzigen Beweis gegen die Anarchisten glaubwürdig zu machen. Also hat die Richterschaft die heiße Kartoffel weitergereichen und das Verfahren vertagt, auf einen Termin, der – schau an – genau drei Tage nach der Entscheidung in Rom über die Zulassung der Anklage Marinis in den anderen Fällen festgesetzt ist. (Diese werden am 10. Dezember 96 getroffen.) Damit haben sie nicht nur Zeit, die "Reuige" besser zu instruieren; bei diesem Anlaß werden die offensichtlichen Lügen der Kronzeugin noch nicht festgestellt sein. Es ist auf alle Fälle kein negatives Zeichen, daß die Richter nicht gleich das Urteil gesprochen haben. Niemand erwartete sich etwas anderes von der Justiz...