von Marco Camenisch
"die Angeklagten (...) förderten, bildeten, organisierten und nahmen jedenfalls teil an einer Vereinigung mit dem Zweck der gewaltsamen Subversion der im Staat bestehenden wirtschaftlichen und sozialen Ordnung (...), die sich auch als bewaffnete Bande mit dem Zwecke der Verübung von (...) Delikten konstituiert hat. Es handelt sich um eine Bande gemäß dem evasiven (=ausweichenden, d.T.) Schema der doppelten Ebene (eine sichtbare und anscheinend legale, eine geheime und in der Praxis illegale) und den voneinander abgeschotteten Abteilungen mit den spezifischen Eigenschaften der ORAI, welche der Theorie von Bonanno, Alfredo Maria, entsprechend aus Affinitätsgruppen, Basiszellen und Koordinierungen besteht, (...) die sich überdies einer diffusen Aktivität zur Werbung von Anhängerschaft widmet, mittels Druck von Flugblättern, Dokumenten und alternativen Zeitschriften interner Verteilung, wie "Anarchismo", "Provocazione", "CaneNero" und "GAS - Gruppi Anarchici Speziali", mit dieser gefährlichen Aktivität zur Anstiftung und Verherrlichung von Delikten mit dem Zwecke der Evasion der verfassungsmäßigen Ordnung. Mit dem erschwerenden Umstand, hinsichtlich dem Delikt der bewaffneten Bande, des Zieles von Terrorismus und Evasion der demokratischen Ordnung."
"(...) Besonders wichtig ist überdies, der Inhalt des Artikels "Neue Wenden des Kapitalismus" von Bonanno (in der Zeitschrift "Anarchismo" im Mai 1993 veröffentlicht und in der Wohnung des Tesseri in Nettuno nach seiner Verhaftung wegen des Raubüberfalles von Serravalle beschlagnahmt, wo des Wesen der anarchistischen aufständischen Organisation dargestellt wird, welches auf der Bildung neuer Strukturen gründet) an dessen Schluß steht: "Für den unmittelbaren und zerstörerischen Angriff gegen Strukturen, Einzelpersonen und Organisationen von Kapital und Staat" (...). Ende Zitate."
In den Ermittlungsakten der Bullen bezüglich Bonanno steht u.a., daß besagter Artikel die Niederschrift eines Vortrages sei, den Bonanno in Griechenland in konspirativem Zirkel gehalten und anschließend diskutiert hätte.
Der kriminalisierte Vortrag wurde während einer Reihe von Vorträgen mit anderen Beiträgen zum Thema Aufstand (auch anderer italienischer Genossen) in Griechenland gehalten. U.a. in der Universität von Saloniki vor ca. 1.500 ZuhörerInnen, Presse und Fernsehen; er wurde in der Nr. 72 von Anarchismo" mit anderen analytisch-theoretischen Beiträgen zum Aufstand und ebenfalls in einem Sammelbändchen 1995 vom Verlag "Il Culmine/GAS" veröffentlicht. Letzteres versuchte ich zu übersetzen und schlug es den später von der Kronzeugin des Raubüberfalles bezichtigten GenossInnen und VerlegerInnen Guido Mantelli und Roberta Nano zum Kopieren und zur Verteilung im deutschsprachigen Raum vor. Wegen der Haftbefehle, denen sich die beiden entzogen, konnte diese Verteilung der Übersetzung nicht realisiert werden. Besagtes Bändchen wurde mir und anderen GenossInnen (im Knast) beschlagnahmt - unterdessen konnten wir uns wieder Exemplare davon beschaffen.
"Neue Wenden des Kapitalismus" behandelt folgende Themen/Kapitel: Einführend eine kurze Zusammenfassung der letzten zwanzig Jahre Kapitalismus und Widerstand/Über die neue produktive und demokratische Mentalität/Hindernisse für den aufständischen Kampf gegen den postindustriellen Kapitalismus und den Staat/Technologischer Wiederaufbau/Politischer, wirtschaftlicher und militärischer Wiederaufbau/Zusammenbruch des Realsozialismus und Wiederaufkommen des Nationalismus/Entwicklungsmöglichkeiten vom Massenaufstand hin zum anarchistischen Kommunismus/Anarchistische Revolutionäre Organisation ("L´organizzazione rivoluzionaria anarchica")/Wieso sind wir insurrektionelle (aufständische, d.T.) Anarchisten.
Auf den vorletzten Untertitel und das entsprechende Kapitel stützt sich die Anklage "Vereinigung" und "bewaffnete Bande" plus Namensgebung "ORAI". Das Konzept "Organizzazione Rivoluzionaria Anarchica Insurrezionalista" wurde bis zur Vortragsreihe in Griechenland in italienischer Sprache ausschließlich als "Organizzazione Informale" bezeichnet (informell, gestaltlos, nicht formell...). Wegen des griechischen Politik- und Sprachverständnisses war diese Bezeichnung im spezifischen Kontext nicht brauchbar und verständlich.
Brauchbar wäre diese Bezeichnung auch für eine Anklage nicht gewesen, da "informelle" mit dem staatlichen und rechtlichen Verständnis (hierarchische, feste Strukturen) von "Vereinigung" und "bewaffneter Bande" unvereinbar ist.
Erst recht unvereinbar, sind die genauen und klaren Beschreibungen des Konzepts, das Konzept an sich und natürlich dessen willkürliche Interpretation durch die Anklage, die zielgerichtet aus ihrem logischen und ausdrücklichen Zusammenhang gerissene Bruchstücke des Texts verwendet, der vollständig übersetzt folgendermaßen lautet:
oder eben
"Wir meinen, daß anstatt der Bünde und der traditionell organisierten Gruppen, welche durch nunmehr nicht mehr bestehende und im überwinden begriffene wirtschaftliche und soziale Strukturen sinnlos und uneffektiv gewordene Modelle sind, Affinitätsgruppen aufgebaut werden müssen, bestehend aus einer nicht allzu großen Anzahl von GenossInnen, die durch eine tiefe gegenseitige Bekanntschaft verbunden und dazu fähig sind, sich miteinander über periodisch stattfindende Kämpfe zu verbinden, Kämpfe mit dem Zweck der Verwirklichung bestimmter gegen den Feind gerichteter Aktionen.
Im Verlaufe dieser Aktionen soll die Möglichkeit zur Diskussion und folglich zur Vertiefung der praktischen und theoretischen Aspekte der zukünftig möglichen Aktionen hergestellt werden.
Die Praxis der Zusammenarbeit von Gruppen und Einzelpersonen wird abgesprochen, indem Mittel, Dokumentationen und alles zur Durchführung der Aktionen Notwendige beschafft wird. Die Analysen werden möglichst breit durch eigene Presse, Versammlungen und Debatten verteilt, welche spezifische Argumente behandeln. Zentraler Bezugspunkt einer insurrektionellen organisatorischen Struktur, ist also nicht der periodisch stattfindende Kongreß, der für die großen synthetischen Organisationen und Verbände der Bewegung typisch ist, sondern im Zusammenhang aller Kampfsituationen, welche solchermaßen zu Angriffen gegen Klassenfeind und zu Momenten der theoretischen Reflexion und Vertiefung werden.
Die Affinitätsgruppen können ihrerseits zum Aufbau von Basiszellen beitragen. Zweck dieser Strukturen ist im Bereich der intermediären Kämpfe (lotte intermedie) die alten gewerkschaftlichen und sonstigen Widerstandsorganisationen abzulösen, auch diejenigen, die beharrlich an der anarchosyndikalistischen Ideologie festhalten.
Aktionsbereich der Basiszellen sind also die Fabriken oder was davon noch übriggeblieben ist, die Stadtteile, Schulen, soziale Ghettos und all jene Zusammenhänge, in denen sich der Ausschluß der Klasse, die Trennung zwischen "Miteinbezogenen" und "Ausgeschlossenen" materialisiert.
Jede Basiszelle entsteht fast immer aus der vorantreibenden (propulsiven) Aktion der insurrektionalistischen AnarchistInnen, besteht aber nicht ausschließlich aus ihnen. Innerhalb der Vollversammlung als Entscheidungsträgerin müssen die AnarchistInnen ihre vorantreibende (propulsive) Aufgabe gegen die Ziele des Klassenfeindes maximal entwickeln.
Verschiedene Basiszellen können Koordinierungen zum selben Zwecke aufbauen, indem spezifischere Organisationsstrukturen gebildet werden, jedoch immer nach den Prinzipien der permanenten Konfliktualität, der Selbstbestimmung und des Angriffes.
Als permanente Konfliktualität bezeichnen wir den ununterbrochenen und einschneidenden Kampf gegen die realen Ausdrücke der Klassenherrschaft und deren MacherInnen und VerwalterInnen.
Als Selbstbestimmung bezeichnen wir die vollständige Unabhängigkeit von jeglicher Partei, Gewerkschaft und sonstiger Klientel. Die Organisierung des Kampfes muß folglich ihre Mittel ausschließlich durch spontane Spenden beschaffen.
Als Angriff bezeichnen wir die Verweigerung, zu verhandeln, des Vergleiches, der Befriedung und des Kompromisses mit dem Klassenfeind.
Aktionsfeld der Affinitätsgruppen und Basiszellen ist der Massenkampf.
Diese Kämpfe sind fast immer intermediär (mittelfristig? - d.T.) und haben als solche keine unmittelbare und direkte zerstörerische Wirkung, sondern sind oft einfache Forderungen, mit dem Zweck, mehr Kräfte zu sammeln, um den Kampf gegen andere Ziele besser zu entwickeln.
Schlußendlicher Zweck dieser intermediären Kämpfe bleibt jedenfalls der Angriff. Natürlich können einzelne GenossInnen oder Affinitätsgruppen abgesehen von jeglichem weitergehenden Organisationsverhältnis den direkten Angriff gegen einzelne Strukturen, Individuen und Organisationen von Kapital und Staat beschließen.
In dieser sich unter unser aller Augen konsolidierenden Welt, wo das informatische Kapital dabei ist durch die Anwendung einer niemals anders als zum Erhalt dieser Herrschaft brauchbaren Technologie endgültig Kontroll- und Herrschaftsverhältnisse vorher nie dagewesener Vollständigkeit herzustellen, wird Sabotage wieder zur klassischen Waffe im Kampf aller Ausgeschlossenen."
Das ist die Beschreibung eines Konzeptes anarchistischer Massenorganisation. Die funktionale Falsch-Interpretation der Anklage macht daraus eine spezifische, ideologisch abgeschottete Organisation. In der Verkehrung eines Konzeptes horizontaler Massenorganisation in eine vertikale Organisation wird letztere auf eine beliebige, durch die Anklage zusammenbehauptete Gruppe radikaler "AnarchistInnen" projiziert, um damit wiederum eine nicht bestehende, kollektive ideologische und strafrechtliche Verantwortung zu behaupten.
(...)
Novara, 10. 4. 97, Marco Camenisch
(Dieser Text wurde gekürzt, da er sich mit anderen Artikeln in
dieser Ausgabe des BreakOut überschnitt.)