Aufbausch Marini

Die erste Folge der Vorverhandlungen, die vom 6. und 13. Mai, in die noch einige andere Fakten, (hauptsächlich der Bombenanschlag in Mailand am 25. April auf den Palazzo Marino), mit einbezogen wurden wurden mit der Verschiebung auf Juli beendet. Der Staatsanwalt Antonio Marini hat verlangt, neue Kenntnisse zu berücksichtigen, die sich beziehen auf den Banküberfall in Cordoba in Spanien, den Angriff auf die italienische Konsulat in Malaga, das Internet, die Festnahme des flüchtigen Massimo Passamani in Paris, den Sprengstoffanschlag in Mailand am 25. April und die Presse der anarchistischen und aufständischen Szene.

Marini sagte weiterhin, daß die Bande, trotz der Festnahmen, weiterhin kriminelle Aktivitäten ausübe. Damit meinte er als Beispiele den Banküberfall in Spanien, den Anschlag in Mailand und die Präsenz von Anarchisten im Internet. Seiner Meinung nach muß die Organisation der Bande noch einmal überarbeitet werden, um die Rolle einzelner Angeklagten, die sich auf freiem Fuß befinden, neu zu bewerten. Er fügte jedoch hinzu, daß es auf jeden Fall noch Mitglieder der Bande gäbe, die im Moment "noch nicht identifiziert" sind.

Die Ermittlungen sind also alles andere als abgeschlossen. Der Akteneinsicht konnten wir einen wichtigen Aspekt entnehmen: Die ErmittlerInnen sehen das berühmt-berüchtigte anti-militaristische Treffen 1988 in Forli als historische Spaltung zwischen dem "harten" Flügel der anarchistischen Szene und dem Rest, vertreten von der italienischen anarchistischen Föderation, was sich im Hinauswurf der "Gewalttätigen" durch die FAI zeigt. Damit wird das Verfahren - Zitat aus den Akten - von einem politischen zu einer Strafsache. Mit diesem Hinauswurf entstand die Situation, in der sich dann die erdachte bewaffnete Bande (die bis jetzt ORAI genannt wurde, ab der letzten Verhandlung jedoch als Azione Rivoluzionaria bezeichnet wird) gegründet hätte.

Diese Bemerkung ist keine Kleinigkeit. Sie ist nicht nur wichtig, weil sie, oberflächlich betrachtet, einer geschichtliche Erklärung der Existenz der Bande liefert. Sie ist auch deshalb wichtig, weil sie zu verstehen gibt, daß dieser "Rausschmiß" aus der restlichen Bewegung nicht nur die Verweigerung vor irgendwelchen illegalen und gewalttätigen Vorschlägen durch einige AnarchistInnen bedeutet, sondern auch ein Urteil und einen Beitrag zur Isolierung all derjeniger, die angeblich eine Karriere wilder Krimineller eingeschlagen haben.

Als er im Fernsehen sprach, betonte der gute Marini, daß seine Anklage keinen Angriff auf die Gesinnungsfreiheit darstellt, sondern einen Versuch, eine gefährliche Bande, die sich aus Terroristen und Kriminellen zusammensetzt, zu ersticken. Dabei sollte er soweit informiert sein, um zu wissen, daß unter denen, die sich in Italien als AnarchistInnen verstehen, die FAI eine lächerliche Minderheit darstellen. Noch weniger interessiert es ihn, daß die anarchistische Galaxie, die sich in den 60ern und 70ern tatsächlich an der Hundeleine der außerparlamentarischen Linken führen ließ, sich mittlerweile in unzähligen kollektiven und individuellen Zusammenhängen entwickelt hat, und mit und nach dem Auftauchen der Punks und ihrer Besetzungen von der herkömmlichen Szene abwichen.

Nur zu gut weiß er, denn es ist kein Geheimnis, daß die FAI und die Organisatoren des antimilitaristischen Treffens, die seiner Interpretation widersprechen könnten, nie einen Finger rühren werden, um diese Angelegenheit zu klären. Im Gegenteil, sie haben sich bereits distanziert, mit der bürokratischen und heuchlerischen Bemerkung in ihrer Zeitung, sie hätten 1988 keinen Kongreß in Forli abgehalten und auch niemanden rausgeschmissen. Und kein Wort der Solidarität gegenüber den Festgenommenen, denen nicht einmal zuerkannt wird, sich AnarchistInnen zu nennen.

Von der politischen Anklage zur kriminellen Anklage: Merken wir uns diesen Übergang gut. Nicht weil diejenigen, die jetzt im Gefängnis sind und gegen die ermittelt wird, sonst die Repression nie kennengelernt hätten; jedes Individuum, daß sich als AnarchistIn versteht, kann nicht anders als sich vor Augen zu halten, daß die eigenen Lebensentscheidungen und die eigenen Aktionen nur zwei Lösungen ermöglichen: entweder die Zerstörung des Staates oder Tod oder Gefängnis. Man könnte sich entscheiden, daß man doch irgendwie über die Runde kommen, sich anpassen und dabei vielleicht auch ein bißchen Spaß haben kann. Das ist eine legitime Entscheidung, die auch verständlich sein kann. Man kann sich jedoch auch entscheiden, in eine Dimension zu gehen, in der gekämpft wird, um weniger zu leiden, um mehr zu haben, um besser überleben zu können, um weniger unglücklich zu sein.

Und auch das kann eine zu respektierende Entscheidung sein - wenn sie mit Klarheit getroffen wurde und nicht zu Ungunsten derer geht, die, aus welchen Gründen auch immer, guten oder schlechten, bekannten oder nicht bekannten, entscheiden, nichts von dem tolerieren zu können, was uns beherrscht, und sich deshalb - ohne Kalkül - bewegen. Ohne Kalkül, denn sonst verwandelt sich alles in Politikmachen, Vorherrschaft, Macht, Angleichung, Homogenität. Sonst wäre alles, was nicht wir selbst sind, alles, was anders ist und vielleicht höhere Ziele hat, Träume, Wünsche und Gefühle, der Feind.

Und das scheint hier zu geschehen. Marini hat eine glückliche Hand. Er und seine Diener der ROS (ital. Sonderkommando) haben begriffen, daß sie von diesen Verhaltensweisen nicht nur profitieren, sondern auch Gebrauch davon machen können: Je mehr die "echten", die "offiziellen" AnarchistInnen über so entfernte und sinnlose Angelegenheiten reden wie Soffri, den Bußgeldern wegen Plakatierens, Flohmärkten und anderem sinnlosen Zeug und über diese elende repressive Aktion schweigen, um so mehr begreift Marini, daß seine erfundene These, die von dem falschen Kongreß ausgeht, hält, ja sogar sehr gut hält.

Die strafverfolgende Anklage hält dank des allgemeinen Schweigen seitens der bürgerlichen Medien und der Informationsmittel der außerparlamentarischen Linken. Sie hält durch das Schweigen des Bewußtseins der Öffentlichkeit, die nichts weiß, und wenn sie doch etwas weiß, gleich nach einer Fahne zum Schwenken oder einem banalem Slogan sucht. Dies ist sicherlich nicht der Fall derer, die heute in einer Pechsträhne sind.

Marini hat sicherlich wenig in den Händen. Eine unglaubwürdige Jugendliche und ein paar Prozesse, die bereits von allein zerfallen: es ist kein Zufall, daß er mehr Zeit verlangt - vielleicht, um noch jemanden zu verhaften, um damit etwas Solideres in die Ermittlungen einzubringen.

Nun geht er bereits auf das Internet los. Man weiß nicht, was er so seltsam daran findet, daß auch die AnarchistInnen Mittel haben, um anderen Leuten das mitzuteilen, was sie zu sagen haben: "die Gruppe der aufständischen Anarchisten, genannt revolutionäre aufständische anarchistische Organisation, ist im INTERNET über die periodische Zeitung 'CANENERO', die das Pressemittel dieser Szene darstellt, präsent...", "...Die Zeitung liefert zwei Internetadressen für den Empfang von eMail: elpasosq@freenet.hut.fi und lucpac@freenet.hut.fi, und gibt für den normalen Postverkehr die Adresse des "anarchistischen Verteidigungskommitees (CDA) c/o El Paso, Via Passo Buole n. 47 Torino 10127 an...", "...das verdeutlicht nicht nur die Bereitschaft, im schnellstem Zeitraum die anarchistische aufständische Ideologie zu verbreiten, sondern auch ein gewisse finanzielle Bereitschaft....".

Vielleicht kann ihm ja der nächstbeste Jugendliche erklären, daß diese Sachen mehr oder weniger gratis sind und keine besondere Spezialisierung erfordern. Unabhängig der großen Wörter kann man im Internet wesentlich anderes als die "aufständische Propaganda", wie er sie nennt, finden. Zum Glück.

Außer dem Internet hat er dann noch die Festnahme Massimo Passamanis in Paris ins Spiel gebracht. Wer weiß, was daran so seltsam ist. Ist es nicht normal, daß ein Mensch, der versucht, seiner Verhaftung zu entkommen, versucht, sein Land zu verlassen? Näher als Frankreich... Massimos Verhandlung ist auf den 15. Juli datiert, dort wird über die Ausweisung entschieden.

Als nächstes die Verhaftung Salvatore Condrós. Ein Universitätsprofessor, der in die Geschichte einer Autobombe 1989 in Rom hineingezogen wurde. Marinis Einflüsterer sprachen von einem "Franzosen", und das ist dann wohl bereits ausreichend. Contró wurde am 6. Februar in Marsiglia verhaftet, als er seinem normalen Leben nachging. Er kann sich auf ein eigenes Komitee stützen, zu dem über 1.000 Leute beitragen: ArbeitskollegInnen, KünsterInnen, die Creme der institutionalisierten Linken seiner Stadt. Er war noch nie Anarchist, im Gegenteil, um aus der französischen Presse zu zitieren: "...noch nie Sympathie für Terroristen gehabt." Vergessen wir's. Die Verhandlung für seine Auslieferung wurde auf den 6. Juni gelegt, wenn die Chambre d´Accusation wieder zusammentritt.

Dann Michele Pontolillo und die anderen aus dem Banküberfall in Cordoba im vorigen Dezember. Über Michele können wir nur sagen, daß niemand glaubwürdiger behaupten könne, an einem Banküberfall aus persönlichen Gründen teilgenommen zu haben. Zwei Kinder zu haben und aufzuhören, sich den Buckel wund zu arbeiten, ist ja wohl mehr als verständlich. Wir würden uns auch nicht wundern, wenn er das Geld auch genutzt hätte, um das Leiden anderer etwas erträglicher zu machen - wir kennen seine Sensibilität. Ihm, Lavazza und Rodriguez werden weitere zwei Überfälle in Albacete und der Angriff auf die Botschaft in Malaga vorgeworfen. Michele schreibt, daß der Ministerrat eine Auslieferung für Lavazza befürwortet hat, und dieser nach dem Prozeß nach Italien ins Gefängnis gebracht wird. Im Gefängnis von Jaen, in dem er und Barcia sich befinden, wird der Streik des "patio" fortgesetzt. Das heißt, die Gefangenen verlassen ihre Zellen nicht, um gegen die unmenschlichen Lebensumstände im Knast zu protestieren. Er schreibt weiter, daß Rodriguez' Gesundheitszustand etwas besser geworden sind (er hat ein Munitionsteil im Hals stecken), daß dieser jedoch noch nicht schreiben kann, weil seine rechte Hand immer noch gelähmt ist.

Dann gibt es noch die Bombe auf den Palazzo Marino am 25. April in Mailand. Dazu gibt es sogar einen Bekennerbrief, der mit azione rivoluzionaria anarchica (revolutionäre anarchistische Aktion) unterzeichnet ist. Das könnte tatsächlich ein Nachruf der A.R. sein, wir zweifeln jedoch daran(a.d.R. "Azione Rivoluzionaria" war eine in den 70ern aktive bewaffnete anarchistische Struktur, die es inzwischen nicht mehr gibt).

(...)

Das war's soweit. Am 1., 12., 15. und 17. Juli werden die Vorverhandlungen in Rom fortgesetzt. Schauen wir mal, was den Wächtern der Demokratie in der Zwischenzeit noch so einfällt.

Aus "Caliente"

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Teil eines Kommuniqué der Korrespondenzkommision (ja Wahnsinn!) der FAI:

"Aktionen wie die Bombe in Mailand haben keine andere Folge als (...) die Tendenz zu schüren, die sozialen Angelegenheiten wider der öffentlichen Ordnung (original: in termini di ordine pubblico) zu behandeln. Solche Taten führen heute zu nichts anderem als zu einer Vorbereitung der Gesetze und Ordnung... die CdC (Commissione di Corrispondenza) möchte daran erinnern, daß die Aufgabe der föderalistischen Anarchisten sich in sozialen Kämpfen ausdrückt und das in der Praxis des Basisanarchosyndikalismus, der Selbstverwaltung und des Mutualismus, der internationalen Solidarität, des Comunalismus,( A.d.Ü. sorry, weiß der Teufel woher sie ihren Wortschatz nehmen, im Wörterbuch nicht vorhanden) und des Antimilitarismus."

Erbärmlich auch die Aussage der FAIistInnen aus der Region Reggio Emilia. Diese protestieren in der anarchistischen Zeitung "Umanitá Nova" dagegen, welchen Raum die Presse (vermutlich die anarchistische?) dem Anschlag in Mailand gegeben hätte, einer Sache, die ihrer Ansicht nach kein Anarchist jemals konzipieren würde. Sie ärgern sich, weil ihren ja so kämpferischen Veranstaltungen, also der Alternativkultur, anderen öffentlichen Veranstaltungen und selbstverwalteten Erfahrungen, kein Raum zur Vergügung gestellt wurde. Was die guten Leute wohl mit "selbstverwalteter Erfahrung" meinen ist ein Rätsel. Uns kommt es nicht so vor, als würde irgendeine Struktur der FAI in tatsächlich besetzten Häusern leben, sondern brav ihre symbolischen Mieten an Gemeinden und Städte zahlen (was, würden sie nicht von "Selbstverwaltung" reden, letztendlich ihre Angelegenheit wäre).

An diesem Punkt haben wir uns schon oft genug gefragt, wie sich die deutsche FAU in dieser Angelegenheit mit ihren italienischen GesinnungsgenossInnen verträgt. Auch wenn wir wissen, daß auch die FAU gewissen programmlosen individualistischen Aktionen kritisch gegenübersteht, da diese nicht in ihr Konzept des Massenkampfes passen, konnten wir jedoch erfreulicherweise feststellen, daß sie sich nicht in einer Art und Weise distanziert, die an Denunziation grenzt. Da, wo die FAI es für angemessen hält, anderskämpfende als TerroristInnen und als NichtanarchistInnen zu deklarieren, druckt die deutsche FAU (siehe "Direkte Aktion" ) zumindest die Fakten über die Repression ab. Das finden wir auf jeden Fall korrekt. Niemand ist gezwungen, Stellung zu Zusammenhängen zu beziehen, die nicht selbst erlebt werden. Wie aber läßt sich die Nichtinformation und Distanzierung durch die FAI mit der Gegeninformation durch die deutsche FAU auf internationaler anarchistischer Ebene vereinbaren?