Die föderalistischen AnarchistInnen klagen an
Eine Antwort?
No More Silence


Die föderalistischen AnarchistInnen klagen an

Nachdem sich die FAI eine ganze Zeitlang in Schweigen gehüllt hatte, brach sie es, als die italienischen Tageszeitungen berichteten, daß der Teil der anarchistischen Szene gegen den ermittelt wird, von einem Kongress der FAI in Forli 1988 unter dem Vorwurf des "Terrorismus" ausgeschlossen worden wäre. Es folgt die Äußerung der FAI:

Die kürzlichen Repressionen, die von der Presse aufgrund von Berichten der Justizbehörde und der ROS aufgebauscht wurden, machen die neuen Techniken sozialer Kontrolle deutlich. Sie basieren auf der Erfindung von Mitgliedschaften, Kongressen und Ausschlüssen, die es nie gegeben hat und schieben den verschiedenen Teilen der anarchistischen Bewegung die Rolle zu, die ihnen gerade paßt. Vor allem hat die FAI 1988 weder einen Kongreß in Forli abgehalten, noch sieht die eigene Organisation Ausschlüsse von Mitgliedern vor, und schon gar nicht von Leuten, die ihr nie angehört haben.
Die Hauptdarsteller dieser Episoden, die Staatsanwälte Marini und Ionta und die Sondereinheiten der Carabinieri werfen den Angeklagten besonders schändliche Taten vor: Entführung und mehrfachen Mord. Es lohnt sich, sich daran zu erinnern, daß Marini leitender Staatsanwalt in den Ermittlungen im Massaker von Ustica war, wobei er sehr darauf achtete, die Aeronautica militare (militärische Luftwaffe) nicht mit hineinzuziehen. Er hat außerdem seinen Beitrag dazu geleistet, die Ermittlungen über die desparecidos italienischer Herkunft zu vertuschen und hat damit den argentinischen Metzgern einen guten Dienst erwiesen.Was die Carabinieri betrifft, so weisen die Blutbäder in Italien – angefangen bei der Piazza Fontana bis heute – schwerwiegende Beteiligung hoher Militärs auf (wie z.B. in Peteano und Bologna).
Die "Philosophie" der Ermittlungen basiert auf dem Vorwurf der Bildung einer subversiven Vereinigung. Dieses Delikt, das zur Zeit des Faschismus in die Strafprozeßordnung eingeführt worden war, bestraft keine bestimmten kriminellen Handlungen, sondern ist eine Drohung gegenüber denjenigen Vereinigungen, die darauf abzielen, Unterdrückung und Ungerechtigkeit durch radikale Veränderung der Gesellschaft zu beseitigen. Diese Drohung wird entsprechend den momentanen politischen Interessen in die Praxis umgesetzt. Der Vorwurf der Bildung einer subversiven Vereinigung wird auch dazu verwendet, Repressionen gegen die Selbstorganisation der ArbeiterInnen zu unterstützen, wie die kürzlich verhängten Urteile gegen die gewerkschaftlichen Rechte der USI (Unione sindacale italiana – Gewerkschaft), die das Bestreben nach Veränderung der Gesellschaft in ihrem Statut enthält.
Falsch und instrumental wirken daher die Behauptungen der Verantwortlichen der Voruntersuchung gegenüber der FAI, die als "brav" hingestellt wird: das Delikt der "Bildung einer subversiven Vereinigung" könnte jederzeit auch einer Organisation wie der unseren vorgeworfen werden, die sich dafür einsetzt, den Staat zu zerstören und den kommunistischen Anarchismus zu verwirklichen. Diese Anklage kann auch jeden anderen Teil der sozialen Opposition treffen. Die juristische Ordnung garantiert also nur denjenigen die Freiheit der Vereinigung, die eine Gesellschaft von Herrschaft und Ausbeutung akzeptieren.
Die föderalistischen AnarchistInnen praktizieren die Folgerichtigkeit von Mitteln und Zielen, sie erkennen also nur die Regeln an, die sie freiwillig annehmen, und lehnen jede Form der Fremdgesetzlichkeit ab, oder besser gesagt die Anmaßung autoritärer Einmischung von Seiten irgendwelcher staatlicher Organe (Gesetze, Justizbehörden, Polizei etc.). Mit derselben Entschlossenheit, mit der sie gegen den Staat kämpfen, lehnen die AnarchistInnen jede Anlehnung an Praktiken ab, die den Autoritarismus erhalten oder reproduzieren: die unterschiedslose Gewalt, den Zwang im Fall von Entführungen, der auf traurige Weise die Freiheitsberaubung in Erinnerung ruft, die vom Staat in den Gefängnissen praktiziert wird. Da es der juristischen Ordnung überlassen bleibt, zu entscheiden, was legal und was illegal ist, lehnen wir den Mythos des Illegalismus ab, der besagt, daß illegale Aktionen an sich als revolutionär gelten, auch wenn sie nicht versuchen, die Ordnung selbst revolutionär zu überwinden. Damit verrät sich solch ein Mythos als zutiefst reformistisch.
Die föderalistischen AnarchistInnen bekräftigen nochmals ihren Einsatz für die sozialen Kämpfe, in der Bewegung für Selbstverwaltung und der zur Selbstorganisation der ArbeiterInnen. Sie identifizieren sich mit den Praktiken der direkten Aktion und nicht mit der Delegation, mit der föderalistischen Organisation, der Solidarität mit den Kämpfen der Ausgebeuteten in der ganzen Welt für eine wirkliche Befreiung der Menschheit.

Kongreß der FAI
Carrara, 21./22. 9. 1996


Eine Antwort?

Nach dieser Äußerung der FAI schreibt der Canenero in der Nummer 38 vom November 1996:

"Aber weit entfernt von unserem Anarchismus sind auch die Enteignung und die gewalttätigen Aktionen, die das Leben von Personen gefährden, und generell die Theorie und Praxis der Illegalität um jeden Preis. Diese Aktionen stehen in deutlichem Gegensatz zu dem gewaltfreien, malatestianischen Geist, den wir uns zu eigen gemacht haben."
(aus ital. Germinal, Nr. 71/72, S. 26)

Das größte Pech, das einem Menschen passieren kann, der bestimmte Qualitäten besitzt, ist es, von AnhängerInnen umgeben zu sein. Solange er lebt, wird er ständig damit beschäftigt sein, aufzupassen, daß in seinem Namen kein Schwachsinn gesagt oder getan wird. Diese Anstrengung wird sich nach seinem Tod trotzdem als zwecklos herausstellen, wenn seine AnhängerInnen den von ihm eingeschlagenen Weg weiterverfolgen. Die AnhängerInnen werden nie an ihren Meister heranreichen, denn nur wer keine eigenen Ideen hat, nimmt die der Anderen ins Schlepptau, indem er/sie AnhängerIn wird. Somit beweisen die AnhängerInnen nicht nur ihre Unfähigkeit den eingeschlagenen Weg allein fortzuschreiten, sondern – eben weil sie die Qualitäten ihres/-r VorgängerIn nicht besitzen, schaffen es sogar, die Ideen, die sie zu vertreten behaupten, zu verdrehen und zu verraten.
Dieses, an sich verwerfliche Phänomen, nimmt oft groteske, ja sogar spaßige Züge an, vor allem dann, wenn die/der unglückselige MeisterIn einE AnarchistIn ist, also ein Individuum, das jeglicher Autorität feindlich gegenübersteht und daher aus Prinzip gegen den Geist der Mitläuferschaft ist. Trotz allem, wer kann verleugnen, daß auch innerhalb der anarchistischen Bewegung sich solche Fälle immer wieder feststellen lassen? Um nicht allzuweit auszuholen, denke man nur an den bekanntesten italienischen Anarchisten Errico Malatesta. Allen FreundInnen und Studierenden der Lehre Malatestas mußte eines klar werden: Seine einzige Sorge, sein einziger Wunsch in seinem ganzen Leben war es, die Revolution zu machen. Für Malatesta gab es keinen Zweifel: die AnarchistInnen sind AnarchistInnen, weil sie die Anarchie wollen. Und die Anarchie kann nur durch die Revolution realisiert werden, eine Revolution, die nicht gewaltfrei sein kann und deren erster Schritt der Aufstand ist. Dies scheint eine Banalität zu sein und tatsächlich ist es das auch, aber eine Banalität, gegen die viele AnarchistInnen eine Abneigung empfinden und sie von sich weisen.
So schrieb L. Fabbri: "Der Aufstand ist eine nötige und unumgängliche Tatsache jeder Revolution. Er ist die konkrete Tatsache, durch die diese zur Realität für alle wird. Daher die Abscheu Malatestas für alle Theorien und Methoden, die direkt oder indirekt dazu neigen, die Revolution zu diskreditieren, die Aufmerksamkeit der Massen und die Aktivität der RevolutionärInnen von ihr abzulenken, um sie durch scheinbar bequemere und pazifistischere Mittel zu ersetzen."
Malatesta war nicht einfach nur Revolutionär, denn "alle können sich RevolutionärInnen nennen, nur daß sie so vorsichtig sind, die Verwirklichung der erwünschten Veränderungen auf einen möglichst späten Zeitpunkt hinauszuschieben (wenn die Zeit reif dafür ist, wie sie sagen)." Malatesta war vor allem ein Aufständischer, da er die Revolution – eine Revolution, verstanden "im Sinne der gewaltsamen Veränderung, die gezwungenermaßen gegen die konservativen Kräfte gerichtet ist und somit einen materiellen Kampf, einen bewaffneten Aufstand mit Barrikaden, bewaffnete Banden, die Beschlagnahme der Güter der Klasse gegen die gekämpft wird, die Sabotage der Kommunikationsmittel usw. – sofort machen wollte und nicht in einer weit entfernten und unbestimmten Zukunft. Sofort, so schnell wie möglich, sobald sich die Gelegenheit ergeben würde. Eine Gelegenheit, die, wenn sie sich nicht aus natürlichen Fakten von selbst ergeben würde, von den AnarchistInnen herbeigeführt werden sollte.
Ja, ich weiß, wer kennt nicht die Kritik, die Malatesta an der Gewalt geübt hat, und die Polemiken in Bezug auf Emile Henry und Paolo Schicchi? Trotz allem leugnete Malatesta die Legitimität und Notwendigkeit der Gewaltanwendung an sich nicht, er war nur gegen die Gewalt, die "blind um sich schlägt, ohne darauf zu achten, ob es Schuldige oder Unschuldige trifft." Es ist also kein Zufall, daß sein Beispiel für blinde Gewalt, die Bombe war, die in Barcelona während einer religiösen Prozession explodierte und 40 Tote und zahlreiche Verletzte forderte. Daher konnte er keine Kritik an Aktionen der Revolte üben, die gegen ein bestimmtes Objekt gerichtet waren und dabei keine außenstehenden Personen gefährdeten. Tatsächlich antwortete Malatesta im Laufe eines seiner berühmten Interviews gegenüber Le Figaro, dessen Interviewer ihn dazu bringen wollte, die Bombe von Ravachol und dem Boulevard Magenta zu mißbilligen: "Eure Schlußfolgerung ist voreilig. In der Affäre der Rue Clichy scheint mir, daß man den Rich Es scheint klar, daß alle Diskussionen, alle Polemiken, die in dieser lange vergangenen Zeit stattgefunden haben und die heute einige AnarchistInnen punktuell wieder aufgreifen, überhaupt nicht die Gewaltanwendung an sich zum Gegenstand hatten, sondern nur die Grenze, die man nicht überschreiten kann, ohne die Prinzipien des Anarchismus oder zumindest die Grenzen, die sich aus taktischen Betrachtungen ergeben, in Frage zu stellen.
Aber vergessen wir mal das düstere Ende des zu Ende gehenden Jahrhunderts und die Auseinandersetzungen, die damals in der anarchistischen Bewegung tobten und kommen wir zum Heute. In den letzten Jahren hat sich keinE einzigeR AnarchistIn zu einem Anschlag bekannt, von dem gesagt werden könnte, er wäre blind ausgeführt worden oder unsinnig. Im Gegenteil läßt sich sagen, daß sich all diese Anschläge dadurch ausgezeichnet haben, daß sie gegen Herrschaftsstrukturen gerichtet waren, ohne "das Leben der Personen" zu gefährden. Wie kann man also die Ablehung dieser Aktionen von seiten gewisser AnarchistInnen rechtfertigen? Gewiß nicht, indem man sich Anleihen bei der Lehre Malatestas holt, denn zu behaupten, daß es für den Gebrauch von Gewalt Grenzen gibt, heißt noch lange nicht, daß man nie auf sie zurückgreifen würde.

Man sollte nicht die Toten heranziehen, um seine eigene Trägheit zu rechtfertigen.

Penelope Nin
aus Canenero, Nr. 38, Nov. 1996


No more silence!

Schließlich hat auch die anarchistische Wochenzeitung "Umanitá Nova" beschlossen, ihr langes Schweigen in dieser Angelegenheit zu beenden und hat in der Ausgabe vom 10. November die folgende Notiz veröffentlicht:

Einem Brief, der uns zugeschickt wurde, haben wir entnommen, daß sich Budini Antonio, Camenisch Marco, Campo Orlando... in Folge der repressiven Operation vom 17. September 96 seit 21. 10. 96 im Gefängnis von Rebbibia in Haft befinden.Von Salvatore Gugliara wissen wir, daß er einen Hungerstreik fortführt, und sich sein Gesundheitszustand verschlechtert.

Das hätten sie durchaus auch schon eher erfahren und mitteilen können!